Von wegen Wegschau-Gesellschaft

Glaubt man einer aktuellen Analyse von Überwachungskameradaten, ist Zivilcourage in Städten eher die Regel als die Ausnahme.

In 90 Prozent der Fälle, in denen Menschen in Innenstädten aggressiv aneinander geraten, greift mindestens eine unbeteiligte Person schlichtend ein. Zu diesem überraschenden Schluss kommt jetzt ein internationales Forscherteam, nachdem es rund 200 Aufnahmen aus Überwachungskameras in Großbritannien (Lancaster), den Niederlanden (Amsterdam) und Südafrika (Cape Town) ausgewertet hat. Im Mittel griffen etwa vier Personen je Vorfall ein. Die gefilmten Auseinandersetzungen reichten dabei von „lebhaften Meinungsverschiedenheiten“ bis hin zu „schwerer physischer Gewalt“, wie die Forscher um Richard Philpot im Fachblatt American Psychologist [Philpot R et al. Am Psychol. 2019; Epub ahead of print] berichten.

Die Befunde dürften nicht nur dem subjektiven Sicherheitsempfinden vieler Menschen widersprechen – sie passen auf den ersten Blick auch nicht zu den Ergebnissen jahrzehntelanger Forschung zum sogenannten Zuschauereffekt. Dieser beschreibt das Phänomen, dass die Hilfsbereitschaft eines Individuums sinkt, je mehr andere Personen einer Notsituation beiwohnen und nicht eingreifen. Die Forscher um Philpot haben aber nun vermeintlich genau das Gegenteil beobachtet: Je mehr Zuschauer auf den Videos zu sehen waren, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand half. Wie kann das sein?

CCTV

Der Zuschauereffekt

Den Zuschauereffekt haben Forscher bisher meistens im Labor untersucht. Ein dafür typisches Experiment sieht in etwa so aus [Fischer P et al. Psychol Bull. 2011;137(4):517-37]: Die Versuchsperson wird gebeten, zusammen mit anderen zu warten, bis der Versuch beginnt. Was sie nicht weiß: Die Mitwartenden sind Verbündete des Versuchsleiters und das eigentliche Experiment hat schon längst begonnen. Während die Versuchsperson wartet, simuliert ein weiterer Verbündeter des Versuchsleiters beispielsweise Kreislaufprobleme. Später werten die Forscher dann aus, ob und ab wann die Versuchsperson dem vermeintlich Kollabierten zur Hilfe geeilt ist. Diese Daten vergleichen sie dann mit den Ergebnissen von Versuchspersonen, die alleine gewartet haben. Immer wieder zeigt sich dabei: Personen, die alleine warten, greifen häufiger und schneller ein, als Personen, die zusammen mit anderen warten. Und: Je mehr Personen mitwarten und nichts tun, desto ausgeprägter ist dieser Zuschauereffekt. Es gibt dafür mehrere Erklärungsansätze: Zum Beispiel könnte es sein, dass wir die Einschätzung, ob wir helfen müssen oder nicht, auch davon abhängig machen, ob andere etwas tun. Nach dem Motto: Wenn alle anderen sitzen bleiben, wird es schon nicht so schlimm sein. Oder, dass wir Angst haben, beim Helfen einen Fehler zu machen oder die Situation falsch einschätzen. Oder, dass wir denken: Sind doch genug andere da, warum sollte ausgerechnet ich helfen? Was auch immer als Erklärung zutrifft: Die Forschung zum Zuschauereffekt bezieht sich immer auf die Frage: Wie wahrscheinlich ist es, dass eine bestimmte Person – die Versuchsperson – hilft? Philpot und Kollegen haben sich dagegen für die Frage interessiert: Wie wahrscheinlich ist es, dass irgendjemand hilft?

Die Menge macht’s

Der scheinbare Widerspruch lässt sich also wie folgt auflösen: Selbst wenn die Hilfsbereitschaft eines Individuums in der Menge aufgrund des Zuschauereffekts etwas zurückgehen mag, die Chance, dass überhaupt jemand hilft, steigt mit der Zahl potenzieller Helfer. Zudem gibt es Hinweise, dass der Zuschauereffekt auch im Labor kleiner ausfällt, wenn Personen die Situation als gefährlich einschätzen (was zumindest bei einer Schlägerei nahe liegt). Sprich: Wir greifen eher dann ein, wenn ganz klar ist, dass wirklich eine Notsituation besteht. Ist die Situation nicht so eindeutig, warten wir eher erstmal lieber ab. Und: Auch die jeweilige Quelle mag für die widersprüchlichen Daten eine Rolle spielen: Die künstliche Laborsituation ist eben doch etwas ganz anderes, als die realen Konflikte, die von den Überwachungskameras erfasst wurden. Übrigens gab es in Sachen Eingreifsbereitschaft keine statistisch bedeutsamen Unterschiede zwischen den Städten. Das stütze frühere Forschungsbefunde, nach denen die Streitschlichtung durch Dritte einen universellen menschlichen Zug darstelle, der wahrscheinlich auf einer evolutionären Basis fußt, so die Forscher.

Vorsicht vor zu weitreichenden Schlüssen (Passage aktualisiert am 5. August 2019)

Einschränkend ist anzumerken, dass Philpot und sein Team es auch schon als Hilfe werteten, wenn jemand ein Opfer nach dem Angriff lediglich tröstete. Könnte das die Helferquote aufgeblasen haben? Die Wissenschaftler halten das für eher unwahrscheinlich: Unter 85 zufällig ausgewählten Videos habe es lediglich einen Fall gegeben, bei dem ein Helfer nur tröstete – ohne vorher den Konflikt durch Gesten oder Abhalten des Aggressors aktiv unterbunden zu haben. Ob weitere Studien die hohe Zivilcourage-Rate bestätigen können, bleibt abzuwarten. In einer dänischen Polizeiaktenstudie aus dem Jahr 2017 lag diese zum Beispiel bei rund 75 Prozent [Heinskou MB, Liebst LS. 2017; https://tinyurl.com/Gadevold], in früheren Studien zum Teil noch viel niedriger bei um die 30 Prozent. Zudem diskutieren die Forscher die Möglichkeit, dass vor allem Auseinandersetzungen in Ausgehgegenden in den Datensatz gelangten, weil dort (besonders) viele Kameras installiert sind. Wo Menschen zum Feiern und Vergnügen unterwegs sind, wird häufig Alkohol konsumiert. Jener könnte es dem einen oder anderen leichter gemacht haben, Hilfe zu leisten, wie Philpot und Kollegen spekulieren. Es ist derzeit also unklar, ob die Befunde auch für Menschen in anderen Lebensräumen, zum Beispiel auch auf dem Land, gelten.

Der Rohdatensatz bestand aus 1.225 Videoclips, schreiben die Forscher um Philpot. Unter Anwendung verschiedener Kriterien hat das Team diesen schließlich auf 219 Videos eingedampft. Auch wenn die Kriterien nachvollziehbar erscheinen (z. B.: keine Duplikate, Qualität der Videos reicht aus für Analyse, Videos zeigen keine Ereignisse wie etwa Verkehrsunfälle, Raub oder Drogendeals ), verbleibt beim Leser eine Restsorge im Hinblick auf (unbeabsichtigte) Selektionseffekte.

Trotzdem: Die Wissenschaftler um Philpot werten ihre Befunde als tröstliche Botschaft über den Zustand unserer Gesellschaft. Sie plädieren jetzt dafür, den Fokus der Zivilcourage-Forschung neu auszurichten: Nicht mehr so sehr auf das, was Hilfe verhindert, sondern auf das, was Interventionen erfolgreich macht bzw. scheitern lässt.

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