Im Schattenkabinett

Darstellungen von Schatten eröffnen Zugänge zu Kunst und Kognition, wie die Ausstellung “Ombres” in Lausanne zeigt

Kreis oder Kugel? Auf der Leinwand macht einzig die Schattierung den Unterschied: Der Randbereich zart abgedunkelt, die Front aufgehellt – so wird aus einer zweidimensionalen Fläche ein dreidimensionaler Körper. Mit diesem sogenannten Körperschatten ahmen Künstler nach, wie einzelne Bereiche eines realen Objektes das Licht ganz unterschiedlich reflektieren. Schon in der Antike hatten Maler erkannt, welche Informationen sie unserem Wahrnehmungsapparat füttern müssen, damit wir einen Eindruck von Plastizität gewinnen. Spätere Künstlergenerationen haben dann ausgiebig erkundet, wie viele Freiheitsgrade diese Fütterung bietet – und sind zum selben Ergebnis gelangt, wie wahrnehmungspsychologische Studien: Sehr viele! Solange beispielsweise Schemen dunkler sind als die unmittelbar umgebende Fläche, funktionieren sie als Schatten – ganz egal, ob sie schwarz, violett oder dunkelgrün sind. Ähnliches gilt für die Form oder Richtung von Schatten. All das verrät natürlich sehr viel über unser Wahrnehmungssystem: Maler können deswegen von der Realität abweichen, weil “unser visuelles Gehirn auf eine vereinfachte Physik zurückgreift, um die Welt zu verstehen”, wie es der amerikanische Neurowissenschaftler Patrick Canvanagh im Fachblatt Nature formuliert [Canvanagh P. Nature. 2005;434(7031):301-7].


Aus einem zweidimensionalen Kreis formen Schatten eine dreidimensionale Kugel.

Von der Renaissance bis heute

Unmittelbar erleben lässt sich dieses Wechselspiel von Kunst und Kognition in der sehenswerten Austellung Ombres – de la Renaissance à nos jours in der Fondation de l’Hermitage im schweizerischen Lausanne. In 16 sehr lose nach Epochen sortierten Abschnitten reist der Besucher durch die Kunstgeschichte, vorbei ganz überwiegend an Gemälden, aber auch an Fotografien und (Video-)Installationen. Auftakt ist in der Renaissance. In dieser nutzten Künstler erstmals starke Kontraste zwischen hellen und dunklen Bildanteilen, das sogenannte Chiaroscuro. Damit wollten sie die Aufmerksamkeit des Betrachters lenken, den Eindruck von Raum und Tiefe verstärken und Stimmungen modulieren. Im Frühbarock schraubten Caravaggio und seine Schüler diese Kontraste nochmals kräftig hoch. Dabei hüllten sie so große Anteile der Leinwand in Schwarz, dass der dramatische Stil Tenebrismus genannt wird – von Italienisch tenebroso für finster.

Spätestens in der Romantik begannen Künstler, auch die symbolische Kraft der Schatten stärker auszuloten: Etwa verfasst Adelbert von Chamisso seine Erzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte, in der der Protagonist seinen eigenen Schatten an den Teufel verkauft und dies später bitter bereut. Auch das zu dieser Zeit populäre literarische Doppelgänger-Motiv ist mit der Schattenthematik assoziiert. Und Künstler wie Carl Gustav Carus oder Caspar David Friedrich malen ihre sogenannten Nachtstücke: Mondbeschienene, geheimnisvoll verschatteten Szenerien, die eine düstere Melancholie angesichts irdischer Endlichkeit ausstrahlen.

Die Impressionisten zeigten schließlich, dass Schatten bunt sein dürfen – fantastisch umgesetzt etwa im Gemälde La sombra de la barca von Joaquín Sorolla, in dem Schiffe und Segel veilchenfarbene Schatten auf einen hellen Sandstrand werfen.

L’ombre de la barque (1903) von Joaquín Sorolla. Museo Sorolla, Madrid; Photo: Museo Sorolla, Madrid

Sonderfall Schlagschatten

Den geworfenen Schatten – den Schlagschatten – widmet die Ausstellung zurecht auch noch ein eigenes Kapitel. Sie sind nämlich in der Kunstgeschichte auffallend selten, wie bereits der britische Kunsthistoriker Ernst Gombrich feststellen musste, als er 1995 zusammen mit der National Gallery in London eine Ausstellung zu Schlagschatten kuratierte [mehr dazu hier]. Vermutlich, weil sie eben andere Bildelemente verschatten. Das Problem ist aus der christlichen Ikonographie nur zu gut bekannt. Hier haben Künstler im Laufe der Zeit zum Teil groteske Lösungen entwickelt, um zu verhindern, dass Heiligenscheine wichtige Bilddetails verdecken. Aber im Fall der Wurfschatten ist wahrscheinlich noch etwas Anderes ausschlaggebend. Basierend auf mehreren Experimenten kommen die Psychologen Jayme Jacobson und Steffen Werner zu dem überraschenden Schluss: Die Darstellung von Schlagschatten kann Mehrdeutigkeiten erzeugen, die sich in statischen Bildern schlecht entwirren lassen. Rezipienten fällt es beispielsweise schwer zu entscheiden, was ein Wurfschatten und was ein gemaltes Muster auf einem Objekt ist. In der Realität und in Videos ist das weniger ein Problem, wenn sich Schatten bzw. Objekte bewegen; dynamisch lassen sich beide besser voneinander abgrenzen. Jacobson und Werner vermuten: Weil uns als Betrachtern eh nur bedingt klar ist, ob und in welche Richtung ein abgebildetes Objekt einen Schatten werfen sollte, kann man diese als Maler auch gleich ganz weglassen, wenn man sonst nur Gefahr läuft, Unklarheiten zu provozieren [Jacobson J, Werner S. Perception. 2004;33(11):1369-83].

Entscheiden sich Künstler aber ganz bewusst für prominente Schlagschatten, dann verheißen diese meist nichts Gutes: In Edvard Munchs Radierung Pubertät scheint sich der Schlagschatten eines Mädchens abzuspalten und einen eigenen, ektoplasmatischen Körper zu formen. Bei Giorgio de Chirico lassen massive Wurfschatten sogar gleißend hell erleuchtete Marktplätze zu mysteriösen, gar gefährlichen Orten werden (ausgestellt in Lausanne ist Die Rückkehr des Poeten). Die Bäume und Schlagschatten in Hans Emmeneggers Waldinneres von 1933 erzeugen einen schwarzen Tunnel, der nicht gerade zum Betreten einlädt. Und auch Lee Friedlanders Foto New York City aus dem Jahr 1966 beunruhigt: Zu sehen ist der harte Schlagschatten eines Mannes, der auf den Rücken einer vorausgehenden blonden Frau fällt. Das wirkt nicht erst seit der #MeToo-Debatte bedrohlich.

New York City (1966; épreuve au gélatino-bromure d’argent [2004]) von Lee Friedlander. Collection Fotomuseum Winterthur; © Lee Friedlander, courtesy Fraenkel Gallery, San Francisco

Erreicht der Ausstellungsbesucher in Lausanne irgendwann die Gegenwartskunst, schließt sich ein Kreis; ging es in den vorherigen Epochen darum, mittels Schatten Plastizität und Räumlichkeit zu erzeugen, zeigt uns Marcel Duchamp: auch das Gegenteil ist möglich. Mit Fotos von Schlagschatten bzw. Scherenschnitten seiner Readymades reduziert er die dreidimensionale Wirklichkeit auf eine rein zweidimensionale Flächigkeit. Was für ein Coup!

Ein kleiner Wermutstropfen ist das Ausstellungsgebäude der Fondation de l’Hermitage selbst. So prächtig und sehenswert die ehemalige Bankiersvilla von Innen und Außen auch ist, so wenig war sie als Galerie geplant. Dadurch konkurrieren Kunstschatten mit Raumschatten; so manches Werkdetail zieht dabei leider den Kürzeren. Nichtsdestotrotz ist man aber geneigt, nach dem Ausstellungsbesuch Platon und seinem Höhlengleichnis widersprechen zu wollen: Das Studium der Schatten ist sehr wohl ein Weg zur Erkenntnis!

Moritz Borchers

Mehr Informationen zur Ausstellung hier. Eindrücke aus der Ausstellung finden sich auch auf Instagram und YouTube.
 

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