Masern schwächen Immunabwehr gegen andere Erreger

Ergebnisse zweier aktueller Studien bestätigen den Verdacht, dass das Masernvirus das immunlogische Gedächtnis für Nicht-Masern-Erreger zerstören kann – und liefern damit weitere Argumente für eine Schutzimpfung.

Aztekische Darstellung einer Maserinfektion aus dem 16 Jahrhundert. Bild via Wikimedia Commons aus dem Buch „Viruses, Plagues, and History: Past, Present and Future“, Oxford University Press, USA, Seite 144. 

Einige Eltern möchten ihren Nachwuchs lieber nicht gegen „Kinderkrankheiten“ impfen lassen, weil sie davon ausgehen, dass eine durchstandene Infektion das Immunsystem stärkt. Zumindest im Falle von Masern scheint das allerdings ein Trugschluss zu sein: Eine Infektion mit dem Masernvirus erhöht nämlich nicht nur kurzfristig, sondern offenbar auch langfristig das Risiko, an anderen Infektionen zu erkranken. Warum das so ist, haben jetzt zwei internationale Forschungsteams in den renommierten Fachzeitschriften Science [Mina MJ et al. Science. 2019;366(6465):599-606] und Science Immunology [Petrova VN et al. Sci Immunol. 2019;4(41):eaay6125] beleuchtet.

Beide Teams haben unter anderem die Daten von 77 ungeimpften Kindern ausgewertet, die 2013 bei einem Masernausbruch in den Niederlanden erkrankt waren. Dafür haben die Forscher aus dem Blut der Kinder ein immunologisches Profil erstellt – und zwar bevor und zwei Monate nachdem bei diesen Masern ausgebrochen waren. Dabei ergaben sich zwei Hauptbefunde: 
  1. Nach der Maserninfektion hatte das Immunsystem bei einem Großteil der Kinder Immunreaktionen gegenüber diversen anderen Keimen, die sie zuvor bereits überwunden hatten, „vergessen“. Das Phänomen wird auch „immunologische Amnesie“ genannt [de Vries RD et al. PLoS Pathog. 2012;8(8):e1002885]. Konkret bedeutete das in der aktuellen Studie: Die Maserninfektion hatte zwischen 11 bis 73% des Antikörperrepertoires gegen Nicht-Masern-Erreger bei erkrankten Kindern eliminiert.
  2. Nach der Maserninfektion wies das Immunystem einiger Kinder auch Beeinträchtigungen in jenem Funktionsbereich auf, der dafür zuständig ist, spezifische Immunreaktionen auf bisher unbekannte Erreger zuzuschneiden. Unter anderem war bei circa 10% der erkrankten Kinder ein Teil dieser Immunkomponente in einen unreifen Zustand versetzt worden, „ähnlich wie [ihn] ein Fötus [aufweist]“ [zitiert nach Frederik E. Science. 2019;https://doi.org/10.1126/science.aba0596]. 
Zu diesen immunologischen Befunden passt tendenziell, dass das Team um den Epidemiologen Michael Mina, Boston, MA/USA, in seiner Studie bei 23% der Kinder mit einer schweren Maserninfektion auch eine akute Mittelohrentzündung registrierte.

Zusammen deuten die Daten daraufhin, dass eine Maserninfektion nicht nur bereits vergangene Immunleistungen teilweise zunichte macht, sondern auch die Kraft des Immunsystems schmälert, auf aktuelle bzw. zukünfige Bedrohungen zu reagieren. Bei rund 100 Kontrollprobanden (darunter auch bei Kindern, die kombiniert gegen Masern, Mumps und Röteln geimpft wurden) konnten Mina und Kollegen dagegen zwischen erster (vor) und zweiter Messung (nach Impfung) keine Verschlechterung des immunologischen Profils festellen.

Insgesamt könnten die Daten der beiden aktuellen Studien frühere Befunde erklären, nach denen eine Infektion mit Masern das Krankheits- und Sterblichkeitsrisiko auch Jahre später noch erhöht, obwohl das akute Leiden schon lange abgeklungen ist [Mina MJ er al. Science. 2015;348(6235):694-9]. Für diese Interpretation sprechen auch tierexperimentelle Ergebnisse, die beide Teams zusätzlich zu den Humandaten gewonnen haben.

Modellversuche mit Frettchen
Zum Beispiel impften die Forscher um die Immunologin Velislava Petrova, Hinxton, Großbritannien, Frettchen gegen Grippe. Nach vier Wochen infizierten sie dann einige der Tiere mit dem Hundestaupevirus, der mit dem Masernerreger verwandt ist (diesen Umweg mussten die Forscher gehen, weil das Masernvirus selbst nur Primaten infiziert). Bei den „Masern-Frettchen“ sank in der Folge der Antikörperspiegel gegen Grippeviren, während dies bei den anderen Tieren nicht der Fall war. Wurden die Tiere dann dem Grippevirus H1N1 ausgesetzt, konnten die „Masern-Frettchen“ weniger Antikörper gegen H1N1 bilden, als die andere Gruppe. Auch verlief die Grippe in der „Masern-Gruppe“ schwerer als bei den anderen Frettchen.

In ähnlicherweise beobachtete das Team um Mina, dass Makaken – eine Primatenart – nach einer Maserninfektion einen nicht unerheblichen Teil ihres vorherigen Antikörperrepertoires einbüßen, und zwar für mindestens fünf Monate nach der Infektion.
Wie können Masern das Immunsystem so stark beeinträchtigen? 

Masern befallen Immunzellen
Das Masernvirus befällt verschiedene Zellen des Immunsystems, darunter T-Zellen und die sogenannten B-Zellen. B-Zellen sind Teil der adaptiven Immunabwehr, die sich von der angeborenen Immunabwehr unterscheidet. Stoßen wir auf einen Erreger, greift erstmal die angeborene, eher unspezifische Abwehr. Erst im zweiten Schritt produzieren B-Zellen eine genau auf den jeweiligen Erreger zugeschnittene Immunantwort: sogenannte Antikörper. Bestimmte B-Zellen, die „gelernt“ haben, einen Antikörper gegen spezifische Erreger herzustellen, bilden dann längerfristig unser immunologisches Gedächtnis. Der Vorteil: Werden wir das nächste mal mit demselben Erreger konfrontiert, kann die spezifische Immunantwort viel schneller und stärker losschlagen. Im besten Fall kann das Immunsystem so den Erreger beim Zweitkontakt gleich abfangen, bevor eine manifeste Infektion ausbricht. Nach diesem Prinzip schützen uns übrigens auch Impfungen vor dem Keim, gegen den geimpft wurde.

Was Masern mit unserem Immunsystem anstellen, haben die beiden Forscherteams also jeweils auf unterschiedliche Ebenen untersucht:
  • Das Team um Mina hat die Immunreaktion anhand der Antikörper unter die Lupe genommen. 
  • Die Forscher um Petrova – zu denen übrigens auch Forscher des deutschen Paul-Ehrlich-Instiuts in Langen gehörten – haben dagegen ihr Augenmerk direkt auf die Quellen der Antikörper, die B-Zellen, gerichtet. 
Zusammen betrachtet liefern damit beide Arbeiten ein ganz gutes Bild davon, wie eine Maserinfektion das Immunsystem schädigt:
Wenn das Masernvirus B-Zellen befällt, verlieren wir Immunzellen, die zuvor „gelernt“ haben, wie sich Antikörper gegen bestimmte Erkrankungen herstellen lassen. Interessanterweise scheint dabei weniger die Gesamtanzahl an B-Zellen abzunehmen, als eher deren Zusammensetzung. Die Forscher vermuten, dass eine größere Zahl von Anti-Masern-B-Zellen gewissermaßen maskiert, dass Abwehrzellen gegen andere, schon früher bekämpfte Erreger verloren gegangen sind. Zusätzlich scheint das Masernvirus bei einer Infektion dafür zu sorgen, dass naive B-Zellen – also solche, die noch nicht auf einen spezifischen Erreger angeschärft wurden – weniger effektiv gegen zuvor unbekannte Keime losschlagen können.

Restitution der Immunität ist risikoreich
Zwar kann das Immunsystem den verlorenen Schutz gegen bestimmte Erreger wiedererlangen; nach den Daten von Mina und Kollegen ist dafür aber ein erneuter Kontakt mit den jeweiligen Keimen erforderlich (oder eine erneute Impfung). „Es kann also Monate oder Jahre dauern, bis das Immunrepertoire für alle relevanten Pathogene zum Ausgangszustand zurückkehrt“, schreiben die Forscher in ihrer Diskussion. Weil die Betroffenen in dieser Zeit einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt sind, regen Mina und Kollegen an, dass Ärzte in dieser Situation eine erneute Impfung gegen gängige Erreger in Betracht ziehen.

Das obere Bild ist eine transmissionselektronenmikroskopische Aufnahme eines einzelnen Masern-Viruspartikels (sog. Virion). Die untere Illustration zeigt eine künstlerische Interpretation des Masern-Virus im Querschnitt. Zu sehen ist unter anderem eine Lipidschicht (rosa), die mit Proteinen be- bzw. durchsetzt ist (blaue äußere Strukturen). Diese Proteine spielen eine Rolle für das Eindringen des Virus in menschliche Zellen. Abbildungen via Wikimedia Commons: Foto: Cynthia S. Goldsmith, CDC/ Courtesy of Cynthia S. Goldsmith; William Bellini, Ph.D.; Illustration: David S. Goodsell, RCSB Protein Data Bank.

Kritik und offene Fragen
Keine Studie ist perfekt – und die meisten wissenschaftlichen Fragen lassen sich nicht durch eine oder zwei Studien beantworten. Das ist auch hier der Fall. Auch wenn die beiden aktuellen Studien – zusammen und vor dem Hintergrund der Literatur – ein konsistentes Bild abliefern, braucht es weitere Forschung zum Thema. Das betrifft etwa folgende Aspekte:

  • Beide Forschergruppen haben dieselbe Patientengruppe untersucht. Aus methodischer Sicht wäre es essentiell, dass die aktuellen Befunde an weiteren Patienten und Kontrollprobanden abgesichert werden. Weil es sich natürlich verbietet, Menschen im Labor mit dem Masernvirus zu infizieren, haben die Forscher sich mit einem Kniff beholfen: Sie haben in Holland ungeimpfte Probanden (bzw. deren Eltern) aus einer religiösen Bevölkerungsgruppe (orthodoxe Protestanten) gewinnen können, in der die Impfraten unter 20% liegen. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass diese Kinder sich in immunologischer Hinsicht von anderen Kindern systematisch unterscheiden, bleibt ein gewisses Restrisiko. 
  • Der Immunologe Duane R. Wesemann, Boston, MA/USA, sieht in einem Kommentar zur Studie von Petrova und Kollegen vor allem den zweiten Aspekt der Immunschädigung durch Masern als noch eher offen: Wie sich eine Maserninfektion im Hinblick auf naive B-Zellen auswirke, müsse noch besser untersucht werden. Das betreffe gerade auch die Frage, ob der Shift bei den naiven B-Zellen zugunsten eher unreifer Zellen negative Folgen für die Immunabwehr hat, zumal dies nur 10% der Patienten betraf [Wesemann DR. Scie Immunol. 2019; https://doi.org/10.1126/sciimmunol.aaz4195].
  • Technisch lassen sich Masern-spezifische B-Zellen von anderen B-Zellen nicht sicher unterscheiden, wodurch letztlich offenbleibt, wie genau die Post-Masern-Verteilung der Gedächtnis-B-Zellen ausfällt. Zwar könnten hier gegen Masern gerichtet B-Zellen dominieren, es wären aber auch andere Szenarien denkbar [Wesemann DR. Scie Immunol. 2019; https://doi.org/10.1126/sciimmunol.aaz4195]. 
  • Die Idee, dass eine Maserninfektion das Immunsystem unterdrücken kann, ist nicht neu. Bereits um 1900 war dem österreichischen Arzt Clemens von Pirquet aufgefallen, dass „tuberkulöse Kinder während der Masern die Reaktionsfähigkeit auf Tuberkulin für ungefähr eine Woche [verlieren]“.  [Pirquet C. Dtsch. Med. Wochenschr. 34(30):1297-300]. Mit dem von ihm entwickelten kutanen Tuberkulintest, später auch als Pirquet-Probe bezeichnet, ließ sich abschätzen, ob Betroffene an einer chronischen bzw. akuten Tuberkulose leiden. Bei der Pirquet-Probe machte man sich zunutze, dass bestimmte Immunzellen in der Haut Quaddeln bzw. Rötungen entstehen lassen, wenn sie auf Tuberkulin (Proteine von Tuberkelbakterien) stoßen und zuvor bereits Kontakt mit dem Tuberkuloseerreger hatten. Unterbleibt die Tuberkulinreaktion bei Tuberkulose-positiven Patienten während der Maserninfektion, spricht das also für einen immunsupressiven Effekt der Masern (die Reaktion auf das Tuberkulin wird über T-Zellen vermittelt, die ebenfalls von Masern befallen werden können).
    Seit Pirquets ersten Beobachtungen ist die immunsuppressive Wirkung der Masern aber wohl noch nie so umfassend charakterisiert worden, wie in den beiden aktuellen Studien. Das sieht auch der Immunologe Mark Slifka, Portland, OR/USA, so, wenngleich er zu bedenken gibt: Es bleibe abzwarten, was die immunologische Amnesie nach einer Maserninfektion langfristig für Folgen habe. Grundsätzlich sei es nämlich normal, dass das Immunsystem Antikörper auch wieder entsorgt, um deren Anzahl in gewissen Grenzen zu halten [zitiert nach Frederik E. Science. 2019;https://doi.org/10.1126/science.aba0596].
Vollkommen klar ist allerdings jetzt schon: Keine der oben angeführten Unklarheiten rüttelt an der Tatsache, dass die Masernschutzimpfung sicher und sinnvoll ist. Diese Vakzinierung ist umso wichter, als Masern weltweit wieder auf dem Vormarsch sind – aufgrund von sinkender Impfbereitschaft.

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