Drakonie und Disorder

Auch leichte Verletzungen der öffentlichen Ordnung führen langfristig zu schweren Verbrechen, lautet eine kriminologische Theorie. Eine aktuelle Analyse findet dafür nur bedingt Belege.

Der gewaltsame Tod des Afroamerikaners George Floyd vor drei Monaten hat nicht nur in den USA, sondern weltweit eine immer noch anhaltende Debatte um Polizeigewalt und Rassismus ausgelöst. Wer in diesen Diskurs tiefer eintaucht, wird früher oder später an ihr nicht vorbeikommen: der Broken Windows Theory. Dabei handelt es sich um ein 1982 von den US-Sozialwissenschaftlern James Q. Wilson and George L. Kelling publiziertes kriminologisches Konzept, das einen kausalen Zusammenhang zwischen räumlicher bzw. sozialer Unordnung – kriminologisch: Disorder – und Kriminalität postuliert. Würden etwa in einer Nachbarschaft eingeworfene Fensterscheiben nicht repariert, signalisiere das eine fehlende informelle soziale Kontrolle; das wiederum ermuntere weiteren Vandalismus und führe ultimativ sogar zu schwereren Vergehen wie Gewaltverbrechen. Der Zusammenhang gelte analog für soziale Formen von Disorder wie Betteln, Herumlungern oder öffentliches Trinken – in der Kriminologie Incivilities genannt. 

Bildquelle: Angy DS/Flickr

Seit in den 1990er Jahren US-Städte wie New York einen Nulltoleranzkurs gegen Incivilities eingeschlagen haben, gilt Broken Windows Policing als Synonym für drakonische Maßnahmen, die nach Auffassung ihrer Kritiker vor allem Nichtweiße unverhältnismäßig hart treffen. Neben der im Moment vielfach erneuerten Kritik, die Broken Windows Theory leiste rassistischer Polizeiarbeit oder sogar -gewalt Vorschub, sorgt kriminologisch – auch außerhalb der USA – eine ganz grundsätzliche Frage schon lange für Streit: Gibt es überhaupt empirische Belege für die Theorie?

Empirische Belege für die Broken Windows Theory
Soziologen um Charles C. Lanfear von der University of Washington sind jetzt dieser Frage erneut nachgegangen und haben die bisherige Studienlage zum Thema ausgewertet. Ihre Ergebnisse wurden im Fachblatt Annual Review of Criminology publiziert. Das Besondere: Das Team hat nicht nur bloß die vorliegende Literatur gesichtet, sondern zuvor die Postulate der Theorie in ein sorgfältig formuliertes kausales Modell überführt. Mit Hilfe dessen haben die Forscher die bisherigen Befunde daraufhin abgeklopft, ob sie überhaupt Aussagen über Ursache und Wirkung zulassen.

Als kausal wenig aussagekräftig stufte das Team etwa reine Querschnittsdaten ein, die in verschiedenen Städten der Welt einen Zusammenhang von Disorder und Delinquenz gezeigt haben. Schließlich ist es ja sehr gut denkbar, dass Chaos und Kriminalität gemeinsam auftreten, weil ein dritter Faktor beide Phänomene verursacht. Genau das besagt etwa die Theorie der kollektiven Wirksamkeit: Sowohl Disorder als auch Verbrechen wären nach dieser konkurrierenden Annahme die Folge eines reduzierten sozialen Zusammenhalts.

Experimente im Feld
Methodisch belastbarer sind Längsschnittstudien, in denen Forscher Disorder und Verbrechen im Zeitverlauf gemessen haben. Aber auch dieses Vorgehen hat Tücken: Schließlich lässt sich nicht restlos ausschließen, dass sich im Stadtteil über den Untersuchungszeitraum noch mehr geändert hat, als bloß das Ausmaß öffentlicher Unordnung – man denke etwa an die Altersstruktur der Bewohner.
Eine noch stärker kontrollierte Alternative sind Feldexperimente, wobei hier enge ethische Grenzen gelten. Schwere Verbrechen sind so natürlich nicht untersuchbar. Typischerweise variieren Kriminologen in solchen Untersuchungen das Ausmaß räumlicher Unordnung (z.B. Vermüllung) und registrieren dann, unter welcher Bedingung Personen eher eine Norm verletzen (z.B. Geld einstecken, das aus einem Briefkasten hängt). Die Resultate solcher Quasi-Experimente sind uneindeutig, zum Teil wohl auch wegen methodischer Mängel. Nicht immer führte Disorder zu Devianz. In Deutschland ließ sich der Effekt in einer Studie zum Beispiel nur eingeschränkt beobachten.

Kurzum: Alles in allem reiche die aktuelle Datenlage nicht aus, um die Broken Windows Theory wasserdicht zu belegen, schlussfolgern Lanfear und Mitarbeiter. Entweder seien die verfügbaren Studien methodisch nicht solide genug oder ihre Befunde insgesamt zu inkonsistent. Zwar fänden sich Zusammenhänge von Disorder, reduzierter informeller sozialer Kontrolle und Verbrechen, die mit der Theorie vereinbar wären; alternative Erklärungsansätze ließen sich aber nicht ausschließen. Somit bleibt letztlich auch die Frage offen, in welcher Größenordnung überhaupt Effekte von Disorder auf Delinquenz im Sinne der Broken Windows Theory zu erwarten sind.

Mehr Community, weniger Polizei?
„Sicherlich fokussiert diese Theorie zu stark auf situative Dynamiken und lässt etwa Tätermerkmale außer Acht. Die Theorie überschätzt damit zugleich Faktoren des sozialen Umfelds“, erklärt dazu Prof. Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Ein weiterer Kritikpunkt: „In dem sie Incivilities zum Ausgangspunkt der Argumentation macht – und nicht Kriminalität–, bedarf es immer eine Definition dessen, was Incivilities sind. Heute sind dies eingeworfene Fenster, morgen herumstehende Jugendliche, übermorgen dann schon Hinweise darauf, dass jemand abweichende Einstellungen aufweist. Die Theorie müsste also noch stärker spezifizieren, was relevante und was weniger relevante Incivilities sind, damit nicht jede Form des irgendwie abweichenden Verhalten als unbedingt und unnachgiebig präventionsrelevant eingestuft werden kann.“

Gleichzeitig wirbt Baier dafür, zwischen Theorie und ihrer Auslegung zu trennen: „Entsprechend der Theorie müsste man ja eigentlich den sozialen Zusammenhalt in einem Gebiet stärken, also Bewohner und beispielsweise auffällige Jugendliche an einen Tisch bringen, sich austauschen und eine gemeinsame Haltung entwickeln lassen. Das spricht eher für sozialarbeiterische Interventionen als für Law and Order.“ Weniger Polizei, mehr Community? Diesen Weg würden vermutlich auch viele derjenigen begrüßen, die im Moment noch immer gegen Polizeigewalt und Rassismus auf die Straße gehen.

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