Von grauen Mäusen und Menschen

Kann Stress unsere Haare wirklich grau werden lassen? Neue tierexperimentelle Daten scheinen genau das zu belegen. Und unter modernen Krebstherapien werden bei manchen Menschen graue Haare plötzlich sogar wieder dunkel. Zusammen zeigt das: Haarfarbe ist weit mehr als ein kosmetisches Thema.

Es gibt ein Foto aus dem Jahr 1973, auf dem der spätere US-Senator John McCain in Richtung eines Flugzeugs marschiert, das ihn zusammen mit anderen amerikanischen Soldaten zurück aus nordvietnamesischer Kriegsgefangenschaft in die USA bringen soll [siehe hier]. Sechs Jahre war McCain gefangen gehalten und auch gefoltert worden. Zudem hatte er bleibende Verletzungen erlitten, als sein Flugzeug am 1967 abgeschossen worden war. Wer um die Geschichte hinter dem Foto weiß, meint zu erkennen, dass dieses Leid auch äußerliche Spuren hinterlassen hat: McCain wirkt ausgezehrt und sein Haar ist grauweiß, obwohl er zu diesem Zeitpunkt erst 36 Jahre alt ist. Es heißt, sein Haar sei bei Kriegseintritt dunkel gewesen. Viele Menschen sind überzeugt: Stress kann Haare ergrauen oder weiß werden lassen. Niemand wird infrage stellen, dass McCains‘ Schicksal mit massivem Stress einhergegangen sein muss. Aber kann Stress wirklich dazu geführt haben, dass sein Haar vorzeitig ergraut ist?


Verbindung zwischen Haarwurzeln und Stresssystem
Im individuellen Fall ist diese Frage natürlich nicht zu beantworten. Aber aktuelle Daten von US-Forschern legen nun nahe, dass es tatsächlich eine Verbindung zwischen Haaren und jenen Körperstrukturen gibt, die an unseren Stressreaktionen beteiligt sind. Zugegebenermaßen ist diese Beobachtung nicht ganz neu [Chou WC er al. Nat Med. 2013;19(7):924-9]. Das Team um Bing Zhang, Cambridge, MA/USA, hat das Thema aber besonders gründlich untersucht. Zum Beispiel war bisher nicht klar, wie genau die Verbindung zwischen Haaren und Stresssystem überhaupt aussieht. Zhang und Kollegen haben jetzt in experimenteller Kleinarbeit den genauen Mechanismus ergründet, der dazu führt, dass heftiger Stress uns unter Umständen ergrauen lässt. Zwar haben sie dafür primär Mäuse untersucht; allerdings deuten frühere Befunde – und auch ein Experiment mit menschlichen Zellen in der aktuellen Publikation – darauf hin, dass die jeweiligen Prozesse bei Mensch und Maus ähnlich ablaufen könnten [Zhang B et al. Nature. 2020; https://doi.org/10.1038/s41586-020-1935-3].

Braune und graue Haarprobe. Quelle: pixabay/stux

Altern im Schnelldurchlauf?
Um zu verstehen, wie Haare unter Stress ihre Farbe verlieren, muss man sich klar machen, wie sie ihre Farbe normalerweise erhalten: nämlich von den Melanozyten! Das sind spezialisierte Zellen, die das wachsende Haar von der Wurzel her mit Farbpigmenten versorgen. Ist der Wachstumsvorgang abgeschlossen, werden die Melanozyten zerstört. Um danach wieder ein Haar einfärben zu können, braucht es einen weiteren Zelltyp: Die sogenannten MeSC („melanocyte stem cells“). Werden MeSC zu Beginn des Haarwachstums aktiviert, können sie sich zu Melanozyten ausdifferenzieren und das Haar einfärben. Das Problem: Wir haben nur eine begrenzte Anzahl an MeSC. Sind sie aufgebraucht, lassen sich auch keine Melanozyten – und damit auch kein Haarpigment – mehr herstellen. Und hier kommt der Stress ins Spiel: Stress sorgt offenbar dafür, dass die MeSC in hoher Zahl auf einmal aktiviert werden und sich zu Melanozyten entwickeln. Oder anders gesagt: Stress verschwendet in kurzer Zeit die gesamte MeSC-Reserve.

Das Bild zeigt Teile eines Haarfolikel (blau) mit Nervenfasern des Sympathikus (grün). Auch MeSC („melanocyte stem cells“), also die Stammzellen, aus denen die pigmentproduzierenden Zellen hervorgehen, sind erkennbar (in Pink). © Bing Zhang and Ya-Chieh Hsu

Die Forscher um Zhang konnten zeigen, dass das stressbedingte Ergrauen mit der Aktivität des sogenannten Sympathikus zu tun. Dieses Nervengeflecht zieht kreuz und quer durch unseren Körper und erreicht auch die Haarfolikel. Stress aktiviert das sympathische Nervensystem, woraufhin dieses unter anderem in den Haarbälgen den Neurotransmitter Noradrenalin ausschüttet. Noradrenalin wiederum aktiviert die MeSC – wahrscheinlich indem es an Rezeptoren andockt, die damit ein zelluläres Differenzierungsprogramm – die sogenannte Proliferation – auslösen. Blockierten die Forscher die Proliferation bei den Mäusen mit Medikamenten, konnte der Stress die MeSC-Reserve nicht mehr dezimieren. Entsprechend blieb das Fellkleid der Mäuse dunkel. Injizierten die Forscher dagegen nicht gestressten Tieren Noradrenalin ins Fell, bildeten sich in der Folge um die Einstichstellen graue Flecken. Zusammen mit etlichen weiteren Versuchen legt das folgenden Wirkmechanismus nahe: Schüttet unser sympathisches Nervensystem unter Stress massiv Noradrenalin aus, kurbelt dies die MeSC-Proliferation übermäßig an, was wiederum dazu führt, dass binnen kurzer Zeit die MeSC-Reserve komplett aufgebraucht ist.

Manche Forscher gehen davon aus, dass ein im Laufe des Lebens kleiner werdender Vorrat an MeSC auch erklären könnte, warum wir im Alter ergrauen [vgl. Sarin KY, Artandi SE et al. Stem Cell Rev. 2007;3(3):212-7]. Wenn diese Hypothese stimmt, könnte man sich das stressbedingte Ergrauen auch als massiv beschleunigten Alterungsprozess vorstellen. Allerdings sei große Vorsicht geboten, wenn es darum ginge, die Ergebnisse aus Mausstudien auf den Menschen zu übertragen, schreibt der Dermatologe Desmond J. Tobin, University of Bradford, Großbritannien, in einer Übersichtsarbeit zum Thema [Tobin DJ. Curr Probl Dermatol. 2015;47:128-38]. Neben den MeSC seien auch andere Faktoren beim altersabhängigen Ergrauen relevant – und überhaupt könnten sich die Prozesse zwischen den Spezies sehr wohl unterscheiden. Etwa gäbe es Hinweise, dass sich ein Teil unserer körpereigenen Haarfärbemaschinerie unter bestimmten Umständen auch im Altern noch regenerieren ließe (was man nicht erwarten würde, wenn das altersbedingte Grauwerden ausschließlich vom vollständigen Verlust der MeSC abhinge). Zu dieser Auffassung passen zum Beispiel auch Beobachtungen aus aktuellen Therapiestudien bei Krebspatienten.


Plötzlich wieder dunkle Haare nach Antitumortherapie
2017 hatten spanische Forschende erstmals Daten von 14 Krebspatienten präsentiert, deren zuvor graue Haare unter einer Therapie mit sogenannten Checkpointinhibitoren wieder dunkel geworden waren [Rivera N et al. JAMA Dermatol. 2017;153(11):1162-5]. Was genau diese Re-Pigmentierung bewirkt hat, ist bisher unklar. Weil die Checkpointinhibitoren in das Immunsystem der Betroffenen eingreifen, liegt die Vermutung nahe, dass beim Menschen (auch) das Immunsystem an der altersbedingten Ergrauung beteiligt ist [Sebaratnam DF et al. JAMA Dermatol. 2018;154(1):112-3]. Für diese Hypothese hatte es ebenfalls schon früher Anhaltspunkte gegeben [vgl. Ali N et al. Cell. 2017;169(6):1119-1129.e11]. Insgesamt deuten diese Daten daraufhin, dass zumindest beim Menschen jene Prozesse, die dafür sorgen, dass sich die Haarpracht im Alter entfärbt, noch komplexer sind, als man das aufgrund der aktuellen Mausstudie vermuten könnte. Zugegebenermaßen war der altersbedingte Farbverlust aber auch nicht das Forschungsziel der Studie.


Kritik: (K)ein kosmetisches Thema?
Die aktuelle Studie wirft mindestens drei kritische Fragen auf:
  1. Warum gibt es überhaupt eine Verbindung zwischen Haarwurzeln und Stresssystem?
  2. Wie gut lassen sich (die aktuellen) Ergebnisse aus Mausstudien beim Thema Haare auf den Menschen übertragen? 
  3. Lassen sich tierexperimentelle Studien rechtfertigen, nur damit wir verstehen, was uns graue Haare wachsen lässt?
Zu Frage 1: Das Team um Zhang kann hier auch nur spekulieren. Sie bringen zum Beispiel die Hypothese ins Spiel, dass die Verbindung aus sympathischem Nervensystem und Haarwurzeln dazu dienen könnte, auf Umweltstressoren zu reagieren, etwa bei starker Sonnen- bzw. UV-Strahlung. Die Verbindung wäre dann eigentlich sinnvoll (Haut und Haar werden dunkler, um vor Strahlung zu schützen). Das System würde aber bei übermäßigem (psychologischem) Stress quasi kurzgeschlossen werden. Die Forscher verweisen in diesem Zusammenhang auch auf Kopffüßler wie Tintenfische, bei denen die blitzschnellen Farb- und Texturwechsel der Haut ebenfalls von Nervenzellen gesteuert werden.

Zu Frage 2: Wenn die Ergebnisse direkt auf den Menschen übertragbar sind, würden wir dann nicht erwarten, in unserem Umfeld viel häufiger Menschen zu sehen, die bereits im Kindes- oder Jugendalter ergraut sind? Warum ergrauen einige Menschen unter Stress und andere nicht? Hier ergeben sich dutzende Anschlussfragen, die sich erst durch weitere Forschung klären lassen. So oder so müssen Forschende – am besten aus anderen Labors – die aktuellen Befunde (sofern ethisch überhaupt möglich) beim Menschen bzw. mit menschlichen Zellen replizieren. Alles in allem bestehen Zweifel, ob sich Ergebnisse aus Mausstudien in puncto Haarfarben einfach auf den Menschen übertragen lassen (siehe auch oben; vgl. Tobin DJ. Curr Probl Dermatol. 2015;47:128-38). Aus methodischer Sicht kratzt das – zumindest teilweise – an der Legitimation von Tierstudien, auf die Frage 3 abzielt.

Zu Frage 3: Tierversuche repräsentieren am Ende des Tages immer ein ethisches Dilemma, bei dem mindestens zwei Güter gegeneinander abgewogen werden müssen: Das Tierwohl und der Erkenntnisgewinn [vgl. Einlassungen und Informationen der Deutschen Forschungsgemeinschaft]. Es ließe sich also einwenden: Graue Haare sind – wenn überhaupt – ein kosmetisches Thema mit geringem Erkenntniswert, für dessen Aufklärung keine Tiere geopfert werden sollten. In der Europäischen Union sind Tierversuche für die Entwicklung von Kosmetika sogar verboten [siehe hier]. Allerdings: Unabhängig davon, wie man grundsätzlich zu Tierversuchen steht – das Thema der aktuellen Studie auf eine kosmetische Fragestellung zu reduzieren, würde zu kurz greifen. Tatsächlich sind die meisten an der Studie beteiligten Wissenschaftler Stammzellforscher. Und das hat einen Grund: MeSC sind nämlich geradezu ein Paradebeispiel für Stammzellen. Sie gehören also zu jener Gruppe von Zellen, die in vielen Geweben ein Reservoir bereitstellen, aus dem heraus wieder neues Gewebe entstehen kann. Das erlaubt es dem Körper, sich selber zu regenerieren und auch Wunden zu heilen. Erkenntnisse, die beleuchten, wie sich unser Haar mithilfe von Stammzellen regeneriert, könnten also (auf lange Sicht) helfen, Erneuerungsprozesse zu verstehen, „wo es wirklich drauf ankommt“: also nach einem Herzinfarkt, bei schweren Verbrennungen, nach Nervenverletzungen. Und auch, wieso regenerative Prozesse wie die Wundheilung unter Stress schlechter ablaufen [vgl. Seiler A et al. https://doi.org/10.1007/978-3-030-16996-1_6] bzw. wie sich solche Stressfolgen unter Umständen abmildern lassen.

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